MENSCHENRECHTSBILDUNG
Cornelia Gräbner: Widerständisches Wissen: Die Lebendigkeit des Erinnerns in Unserem América, Edition Kettenbruch, Ulm/Stuttgart/Canberra 2021
Widerständisches Wissen macht es sich zum Auftrag, die vielen Geschichten zu erzählen, die in den schriftlichen, bildlichen und mündlichen Sammlungen und in der gelebten Realität des Akademischen Zentrums für das Erinnern in Unserem América (CAMeNA) in Mexiko-Stadt unter dem Prinzip des ‘widerständischen Wissens’ miteinander verwoben sind. Das CAMeNA besteht in seiner heutigen Form seit 2005. Die Autonome Universität von Mexiko-Stadt erwarb damals das Archiv des argentinischen Journalisten und Publizisten Gregorio Selser. Das Archiv überlebte Dank der Geistesgegenwart einiger Wissenschaftler/innen des FLACSO, die Bücher und Dokumente sofort nach dem Militär-Putsch im Bibliotheksbestand der Institution versteckten und sie später den Eigentümern ins mexikanische Exil nachschickten.
Die persönlichen Papiere und das umfangreiche Arbeits-Archiv der Selsers wurden der seit den 70er-Jahren in Mexiko lebenden Chilenin Beatriz Torres anvertraut. Über die nächsten Jahre scharte Torres ein Team aus Archivar/innen und Öffentlichkeitsarbeiter/innen um sich, die das versammelte widerständische Wissen dadurch demokratisierten, dass sie es der Öffentlichkeit zugänglich machten. Außerdem gelang es ihr, den Fundus des Zentrums durch zahlreiche Schenkungen zu vergrößern. Widerständisches Wissen nutzt die Erzählform der mexikanischen Chronik um diese facettenreiche, niemals stillstehende, solidarische und engagierte Wissensproduktion darzustellen und in einer anderen Sprache – dem Deutschen – fortzuführen. Erzählerische, essayistische und informative Passagen über die im CAMeNA dokumentierten Thematiken (z.B. Staatsterrorismus, bewaffnete Kämpfe, Menschenrechtsbewegungen, Exil, Dissidenz) werden verwoben und durchsetzt mit Dokumenten aus den Sammlungen, mit Vignetten aus dem Alltagsleben des Zentrums, Auszügen aus Interviews und Gesprächen mit den Mitarbeiter/innen, den Spender/innen und, wenn diese verstorben sind, mit Angehörigen und Mitstreiter/innen.
Diese Art der Chronik führt die Leserschaft durch die verschiedenartigsten Befreiungskämpfen aus Lateinamerika seit den 1950er-Jahren, und sieht mit ihr den vielen Formen der Repression ins Auge. Inhaltlich erwecken die Chroniken das kritische Engagement Lateinamerikas in seinen vielseitigen, manchmal schrecklichen und manchmal schillernden Facetten zum Leben. Manche drehen sich um Lebensgeschichten oder Lebensmomente von Einzelpersonen: kritische Intellektuelle wie Selser, Überlebende des bewaffneten Kampfes, der Folter und der politischen Gefangenschaft wie Raquel Gutiérrez, Journalistinnen wie Blanche Petrich, die über die Bürgerkriege und revolutionären Bewegungen in Zentralamerika berichtete, und Dissidenten wie Brigade-General José Francisco Gallardo, der in den 90er-Jahren das mexikanische Militär öffentlich anprangerte und Strukturen schaffen wollte, die Menschenrechtsverletzungen und Misshandlungen frühzeitig erkennen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen sollten – und daraufhin mehrere Jahre im Gefängnis verbrachte. Andere Chroniken beziehen sich auf kollektive Erfahrungen, wie die der russischen und der argentischen Exilanten in Mexiko oder die von zwei Generationen von Aktivist/innen gegen das ‘Verschwindenlassen’ und politische Haft in verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Zusammengehalten werden die Chroniken durch die politische und ethische Integrität der engagierten Wissensbildung und der widerständischen und solidarischen Neugier.
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